Feindlichkeit

Fixationen und Saccaden. So wie im Leseprozess mein Auge springt von Punkt zu Punkt, von Buchstabe zu Buchstabe und darin sich mögliche Sinnzusammenhänge auffächern, so springt das Auge zurück und eine Eindeutigkeit entsteht. Die eine Aussage. Sie ist auf dem Wege des Ausschliessens errungen. Das Erlaufen von Bedeutung durch meine Augen auf den Zeilen. Fixationen als Punkte größter Schärfe, um die herum unscharfe Bereiche mich erahnen lassen: Wortlänge und Wortbild, dann die Zeile an sich und den Beginn der nächsten Zeile, zu der ich springen werde. Wir wissen nicht, was vorgeht in diesem Sprung von vielleicht acht Zentimetern, gemessen an dem Schärfepunkt auf dem Blatt Papier in dem ideal gesetzten Buch. Dieser Zeilensprung, ein Wunder, dass er keine Unterbrechung in dem Fluss der Gedanken darstellt. Und nun stelle ich mir vor, die Natur zu lesen, das Belebte, mich Umgebende, den Urwald, das fleischlich feucht Schmatzende, das einander Aussaugende, einander Verzehrende, das sich Einverleibende, das Lauernde, sich anpassend in Form und Geschick. Lauernd, ein Jaguar, gemustertes Fell und diese tiefen hineinziehenden Augen. Furcht? Ganz sicher! Aber auch Vertrauen in das liebliche Blatt, in den einen Tropfen, der das Licht der Sonne hinauf in dein Auge bricht. Fixationen und Saccaden, Ruhepunkte und Sprünge der Blickbewegung. Sie waren, bevor Menschen über Mimik und Gesten zu Zeichen und Sprache fanden und schließlich zur Schrift. Sie formten die Schrift und nicht etwa bildete die Schrift aus, was in uns so unbewusst wie geheimnisvoll das Wesen des Lesevorgangs darstellt. Schärfe und Sprünge, Erkennen und Rücksprung, Entschlüsseln und dann wieder Entschlüsseln. Anzeichen und Deutung und Vergewisserung. Das Springen des Blickes auf die Erscheinungen der Umwelt und der Rücksprung, um sich zu vergewissern: Ist dort ein Tier, welches ich fürchte? Ist dort ein Tier, welches ich suche? Das, es ist in uns angelegt und darin sind wir, so wie ein Mensch vor Millionen von Jahren. Wir erschaffen in uns die Illusion eines scharfen Bildes der uns umgebenden Welt über die fixierten, scharf wahrgenommenen Punkte dort im Geäst, auf dem Boden, am Himmel. Und nun schließe ich die Augen und beobachte, wie meine Augäpfel unter den geschlossenen Augenlidern umher tanzen. Ich beobachte die Schlieren, die hin und her geschubst werden, an den Punkten leichter Helligkeit. Und ich versuche meine Augäpfel zur Ruhe kommen zu lassen. Ich Versuche sie zu entspannen. Ich versuche die jagende und befürchtende Anspannung in mir los zu lassen, oder sie zu besänftigen. Das angestrengt Lauernde ist ja ohne Wirkung, da die Augen geschlossen sind. Und so kann ich es doch sein lassen, die ganze Anspannung doch von mir lassen. Die Augen gerichtet auf die Dunkelheit vor mir, auf nichts fixiert und so blicken die Augen parallel, geradeaus auf das Nichts vor mir. Ein imaginäres Nichts, vielleicht fünf oder sieben Meter vor mir. Und da kein Angriff erfolgt, die Feindlichkeit der Welt nicht real wird, da ich gleichzeitig geradezu unsichtbar werde für die Gestalten des Urwaldes, ungenießbar werde für sie, als wäre mein Fleisch vergiftet für sie und damit unattraktiv geworden. Da also Zeit vergeht, ohne ein Ereignis, beginne ich zu vertrauen. Ich vertraue, wie ein Mensch vertraute vor Millionen von Jahren. Ich beginne mich frei zu fühlen. Eine Freiheit von ungeahnter Kraft, so liebevoll, geborgen. Es rührt mich, sein zu dürfen, dankbar bin ich. Einfach bin ich, unteilbar. Ich selbst bin ich. Die Feindlichkeit der Welt, sie kommt zur Ruhe.

Und darum laufe!

Still

Es ist nicht so, dass die Dinge nicht fortwährend gesprochen hätten, sich offenbart hätten, sich zugeneigt hätten, um ihr Wesen zu offenbaren. Doch den Dingen gegenüber still zu werden, bedeutet, sich zu öffnen und die Wahrnehmung setzt ein. Das Feine, das so leicht vertriebene, das, was so schnell schweigt, ist nun zu hören. Lausche! Für einen Moment offenbart sich die Schönheit, denn ich bin schön geworden in meiner inneren Stille. Ich bin anwesend, ohne Werden oder Vergehen. Ergeben und leer. Darin bin ich frei, um die Freiheit der Bäume zu verstehen. Darin schön, um die Schönheit des Wassers zu verstehen. Darin groß, um die Größe des Käfers mit seinen glänzenden Flügeln zu verstehen. Darin scheu, um den Blick des vorbeilaufenden Tieres zu verstehen. Um überhaupt zu verstehen, so sehr, dass ich im folgenden Moment meinen werde, ich träumte. So oft und immer wieder: Ich träumte wohl! Der Traum war ein in Geborgenheit und Sanftheit sich offenbarender Traum der Schönheit. Ein Traum der Schönheit, die all die Irritation, die Angst und den Schmerz nur deshalb benötigte, um sich zu zeigen. Um zu zeigen, dass dieser Traum die eigentliche Wahrheit ist. Die Verbundenheit von Allem mit Allem als die eigentliche Wahrheit. Die Wahrheit, die mich so leicht wieder in den Traum meines Seins entlässt. In den Traum, in dem ich meine, mich mühen zu müssen. In dem ich meine, mich ängstigen zu müssen. In dem ich meine, mich eilen zu müssen. In dem ich meine, mich fremd fühlen zu müssen. Doch diese Erfahrung ist wahr, ebenso wie jene. Die aus der Stille entspringende Erfahrung belegt sich mit den vielen Wundern, die sich ereignen, die mich begleiten und die ich wieder loslasse und vergesse. Es sind immer Wunder der Begegnung. Es sind Wunder, in denen alles spricht, alles wahr ist und mein Wissen von der Wahrheit umfassend ist. Und es ist so einfach, dass ich mich stets wieder daran erinnern mag: Ich erschaffe in mir die Schönheit, werde schön und empfange daraufhin die Schönheit der Welt, die sich nun mir zuneigt. Die Schönheit, die nur darauf gewartet hat, dass ich endlich komme, um sie anzusehen und zu lauschen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass dieser Traum wiederkehrt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass in den Traum einzutauchen, ganz leicht gelingt und dann über Wochen und Monate nicht mehr. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es meiner freien Entscheidung obliegt, in mir alles so zu bereiten, dass ich in den Traum eintauchen kann. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass ich mich nicht in dem Traum verlieren muss und dass zu träumen keine Flucht darstellen muss. Ebensowenig ist von der Hand zu weisen, dass die Wüste meines Seins mich austrocknet und in ihrer Gewalt mich zwingen will. Nichts ist von der Hand zu weisen. Auch und zuletzt nicht die Souveränität, in der ich hier stehe und laufe.

Und darum laufe!

Wer bin ich?

Das Mechanische an dem Laufen ermüdet mich und das Mechanische an dem Denken zudem. Ich trete auf der Stelle und dabei auf einer Frage herum. Sie ist der Weg, das Portal, ein Rat, der Schlüssel und die Antwort des großen Weisen vom heiligen Berg Arunachala. Die Frage lautet: Wer bin ich? So einfach und klar, dass sie unmöglich zu vergessen ist. Sie verweist auf den Gedanken, der zu allen vorausgehenden Gedanken und mit ihnen verbundenen Gefühlen führt: Wer ist das, der dieses denkt? Wer denkt gerade? Und aus dem Inhalt, aus dem ich mich in Windungen zu lösen versuchte, bin ich nun enthoben. Ich fühle mich erhaben und darin lösen sich meine Hysterie, mein Aktionismus, meine Betroffenheit und meine Lähmung. Mitzufühlen bin ich sehr wohl noch in der Lage. Und ich falle auf die Knie vor Erschöpfung. Falle so aus der Erschöpfung heraus und besinne mich. Dann beuge ich mich vor, lege meine Stirn auf den Waldboden und spüre das Blut in meinen Kopf hinabfliessen. Wer bin ich?, denke ich in jedem dieser Momente. Wer bin ich?, im Schließen der Augen, im Niederlegen der Handflächen auf den Waldboden. Und ich sehe vor meinem inneren Auge links vor mir, völlig gestaltlos, mein in das Sein vertieft und verwickeltes Selbst. Es birgt mein Ego, den sich mit sich selbst identifizierenden Teil von mir. Dieses Selbst dehnt sich aus nach rechts hin, um immer weniger verwickelt mit den Erscheinungen und Materialisierungen zu einer anderen Qualität des Selbst zu werden. Es ist ebenfalls völlig gestaltlos. Es ist ein reineres Selbst und es dehnt sich vor mir liegend aus in den dritten Bereich, der bezuglos und unbegrenzt in seinem Kerne reines Nichts ist. Was für ein heiterer Witz! Das also bin ich! Und zudem ist mir möglich, mich selbst dabei zu beobachten. Ein Witz, von einem Witz betrachtet!

Und darum laufe!

Der Schlag

Ich laufe, mitten auf dem Weg trifft es mich wie ein Schlag: Was ist das vor mir? Was war das? Jahr um Jahr, dieses Weiter, Weiter, Schritt um Schritt? All das Laufen, die Distanzen, Kilometer! Ich hatte nichts verstanden, ein Irren im Nebel. Im Glauben, das Eilen würde den Nebel lichten. Was ist das vor mir? Was ist es wirklich? Ich meine nicht den Weg, den Sand, die Kiesel, nicht die Bäume am Wegesrand, nicht den Fluss. Was ist das, wohinein ich den nächsten Schritt setze? Der Schlag, er ist, zu bemerken, in welcher Bedingtheit ich stand bis hierher. Der Schlag, er ist, den eigenen Schatten zu sehen, den blinden Fleck in der eigenen Netzhaut zu sehen, ganz deutlich. Das also ist der begrenzende Käfig, den ich mir installierte. Das Lichtgerüst, im Nebel golden leuchtend. Ich erstarre und stehe still, diesem Moment nachzuspüren. Einen Hauch von Freiheit erblicke ich vor mir. Die Freiheit in mir, sie ist in diesem Moment vollkommen. Sie ist vollkommen, um sie mit dem nächsten Schritt hinein in diesen Raum wieder einzubüßen. Bedingt war ich bis hierher. Frei bin ich jetzt. Bedingt werde ich sein von hieraus. Doch ich habe diesen kurzen Moment, in dem mich der Schlag traf. Ich werde ihn hüten wie einen Schatz.

Und darum laufe!

Vollmond

Ich wache auf in der Nacht. Das Licht des Vollmonds tritt durch ein Fenster in mein Zimmer. Es blendet bläulich und der Schlaf ist wie verflogen. Eine Weile versuche ich wieder einzuschlafen, doch es ist vergebens. Kein Wenden oder Drehen, das Licht ist in mich eingedrungen und so kleide ich mich an und laufe los. Es ist die frühe Nacht, der Morgen ist noch fern. Der Weg ist beschienen, das Licht ist mir vertraut. Ganz still ist es um mich herum. Ein Rascheln hier und dort, der Bach tönt leise, doch mehr ist nicht zu hören. Ich lausche meinem Atem und den Schritten auf dem silbrigen Weg. So geht es eine Weile und ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Alles bleibt vertraut, doch so, wie ich den Wald jetzt sehe, ist er mir völlig unbekannt. Der Weg führt hinauf und hinab. Er windet sich und ich finde mich an einer Wegkreuzung wieder, an der sich der Mond ganz unverdeckt zeigt. Ein kleiner Platz mitten im Wald. Nie zuvor bin ich hier gewesen, dabei kenne ich den Wald und seine Wege doch ganz genau. Bäume säumen diese Kreuzung – Kiefern, Fichten und Lärchen. Ein Baum überragt alle anderen. Er ist deutlich älter, sein Stamm mehr als doppelt so dick, wie die Stämme der ihn umgebenden Bäume. Ich schätze das Alter des Baumes und lege dabei mein Hand an seinen Stamm. Vielleicht 200 Jahre, oder mehr … denke ich. Ich atme tief und ruhe aus. Mein Blick wandert nach unten zu den Wurzeln des Baumes. Dort sehe ich etwas silbrig schimmern. Das Licht des Mondes spiegelt sich. Dort ist etwas, es bewegt sich. Ich blicke, ohne meine Hand vom Stamm zu lassen: Ein Salamander! Schwarze Haut mit gelben Flecken. Auf seinem Weg durch die Nacht begegnen wir einander. Du kannst den Baum etwas fragen … höre ich in mir eine Stimme sprechen. Die Stimme ist deutlich und klar. Es ist die Stimme des Salamanders: Befrage den Baum, er wird Dir antworten! Und so frage ich, als würde ich schlafen, ohne Furcht und ohne ein Bedenken: Warum? Warum das alles? Das Werden, das Vergehen, das Strömen? Das Begehren, das sich wehren? Warum die Hindernisse, die Bedürftigkeit, das Sehnen und das Scheitern? Bitte sage mir, warum? Und der Baum läßt vor meinem inneren Auge ein Bild von gewaltiger Größe, in völliger Klarheit erscheinen. Ich sehe Strukturen, Poygone in Grüntönen gefärbt. Eine Oberfläche, ein gewaltiger Schleier. Bewegt, unfassbar und vielgestaltig. Auf diesen Schleier ist das ganze von mir erfahrene Sein projiziert. Alles, was war. Alles, was ist. Meine Herkunft, mein Ursprung und auch meine Zukunft. Zudem das Sein der gesamten Menschheit, der Schöpfung überhaupt. Und neben diesem Schleier ist dort nichts. Er ist sein eigener Zweck. Was auf ihm zu sehen ist – es ist aus sich selbst heraus projizert. Es gibt keine Lichtquelle außerhalb, keine Optik, keinen Raum. Der Schleier ist alles. Erschöpfend darin und hinter ihm nichts, was er verhüllen würde.  So also antwortet der Baum … Denke ich. Und ich danke dem Baum und dem Salamander, die hier auf mich gewartet haben. Ich fühle mich leicht und heiter. Hiervon zu künden, treibt mich heim.

Und darum laufe!