Mit offenen Augen

Die Bäume rauschen. Ich beschreite den Rausch. Ein Rausch an Farben und Formen. Gelbe und grüne Blätter ausgelegt. Auch braune. Ich betrete Zerreichenteppiche, Buchenteppiche, Ahornteppiche, aus Blättern gewoben. Ausgelegt und fliegend zugleich im Sonnenlicht des Herbstes. Ausgelegt, meine Sinne zu täuschen und es ist rauschaft hier hindurchzueilen mit dem sooft geübten, sich wie von selbst anbietenden, gesenkten Blick. Und ich erkenne anhand der Blattformen, wo ich mich auf meinem Weg befinde. Ich lese auf meiner Landkarte der Welt im Maßstab 1:1. Der Rausch ist so natürlich und so leicht beschritten, so wenig abgegrenzt, dass es mir kaum möglich scheint, zu differenzieren zwischen den Zuständen davor, danach und darin. Eingebettet ist alles und die Natürlichkeit des Rausches, sie wird ganz deutlich und klar. Wieso nicht den Rausch als die eigentliche Form betrachten? Ist sie doch nur durch ein wenig Bewegung und die Fokussierung bewirkt. Ohne Substanzen, ohne Droge. Eindrücke genügen, Sinneswahrnehmungen, das Spiel von Licht und Schatten, die im Herbstleuchten sich auflösende räumliche Tiefe. Alles scheint nah, geradezu wattiert und ohne Hall, das rascheln meiner Füße in dem Laubgeschiebe, nah, dumpf, taub, ganz ohne Hall. Und der sooft geübte, sich wie von selbst anbietende gesenkte Blick ist nicht nur im Lauf, sondern auch im Moment davor. Auch davor ist schon alles Rausch. Rausch ist im erwartenden Innehalten, im unterkomplex tätigen, in dem monoton rhythmischen, in dem sich an sich selbst erregenden Strom an Worten. Rausch ist in dem Offenbarenden an Ton, Wort, Melodie. Rausch ist in Geste, Mimik, Tanz, Bewegung, in der Abfolge und in der Komposition. Rausch ist in in dem, was ich bin, ohne davon zu wissen. Rausch ist in der Ahnungslosigkeit. Der sich, wie von selbst anbietende gesenkte Blick, sooft geübt, er neigt sich hinein in mein Leben, in noch so kleine Brüche, Pausen, Stockungen. Er neigt sich in die Umwege und in die Wege überhaupt. Und so ist mir dieser gesenkte Blick mittlerweile ein Phänomen der offenen Augen, des bedacht Blickens, des Entzifferns und des Beachtens, des Aufmerkens, des in der Aufmerksamkeit Verharrens. Immer öfter, alles Rausch, und, ja, schließlich Depression.

Und darum laufe!

Niederlage

Der Wert einer Niederlage, ich sage, er liegt über dem Wert eines Sieges. Die Niederlage führt zurück, holt den Helden zurück von den Sternen auf die Erde. Aus dem Rausch wird ein nüchterner Zustand und still wird der Mensch. Zu einem Betrachtenden, einem Erkennenden wird er. Alles ist ihm sichtbar. Die Täuschung ist vorbei. Sich selbst erkennt er nun ganz deutlich und er erfährt sich neu in dieser tiefen Enttäuschung. Und er sieht noch mehr: Dort also steht der Sieger. Wie zeigt er sich? Welcher Art ist sein Jubel? Gehemmt oder extatisch? Von welcher Last scheint er in diesem Moment befreit zu sein? Was hat ihn hier herauf getrieben, der Beste sein zu müssen? Abgründe werfen ihre Schatten in das Gesicht des aus sich selbst heraus leuchtenden Helden. Dass es so viele Verlierer gibt auf dem Weg der Ermittlung dieses Einen, des Strahlenden, es ist der eigentliche Wert dieser Wettkämpfe. All die, die es nicht wurden, sind von der Last der Täuschung befreit. Das ist ein gutes Gefühl, frei zu sein.

Und darum laufe!

40 Meter vor Dir

Wenn Du losläufst, so versuche Deinen Focus auf ein Ziel zu lenken, welches imaginär ungefähr 40 Meter vor Dir liegt. Dieses Ziel lasse nicht aus den Augen. Vertraue Deinen Füßen, sie werden den Untergrund erkennen, Dich über Wurzeln und Steine hinweg tragen. Dein Laufen verändert sich. Das Wahrnehmen des Untergrundes, der vor Dir liegt, wandelt sich. Das ist das, was ich meine, wenn ich sage: Vertraue Deinen Füßen! Oder: Sieh mit Deinen Füßen! Oder: Laufe mit Deinen Füßen! Bleibe nun solange, wie es Dir möglich ist mit Deinen Augen – ihrem Focus – auf dem imaginären Ziel in 40 Metern Entfernung. Kommst Du dem Baum, dem Objekt, an dem Du diese 40 Meter festgemacht hast näher auf vielleicht 30 Meter, so blicke voraus und finde ein neues Ziel und wieder und wieder.

Dein Kopf ist erhoben, Deine Haltung gewandelt. Du läufst nun aufrecht, so dass ein Gefühl körperlicher Schwerelosigkeit entstehen kann. Die Beine laufen wie von allein und der Atem geht tief und dann wider ganz hoch über Dich hinaus. Du atmest die Ferne, die Weite, den Kreisbogen von 40 Metern um Dich herum. Nimm ihn als Volumen, welches Deine Lungen einsaugen. Lass es eine Kugel sein von 80 Metern Durchmesser – sie hat mehr als Genug Luft für Dich zur Verfügung.

Du wirst vielleicht bemerken, wie schwierig es ist, mehr als vielleicht fünf oder sechs Schritte zu tun, ohne den Blick auf den Boden vor Dir zu senken. Es ist schwierig, sich nicht fortwährend zu vergewissern, was dort vor Dir auf dem Boden ist. Doch es ist möglich. Du wirst alles, was Dich stolpern lassen könnte wahrnehmen, wenn es notwendig ist. Aber lass Deinen Focus auf Deinem Ziel. Lass Deine unbewusste Wahrnehmung sich um Schrittfolge, Schrittweite, Behutsamkeit des Aufsetzens der Füße kümmern, sie kann es. Der Bereich Deines Gesichtsfeldes, der am unteren Rand liegt, in dem all das liegt, was Dich stolpern lassen könnte, sei nun von einem Wahrnehmungsbereich beobachtet, den ich unbewusst nenne möchte. Vertraue also Deiner unbewussten Wahrnehmung und sieh mit den Füßen, ohne Dein Ziel in 40 Metern vor Dir aus den Augen zu lassen. Vielleicht solltest Du diese Übung erst auf einem ebenen Untergrund versuchen, einer Straße etwa, um dann allmählich auf abwechslungsreichem Terrain weiterzuüben. Du kannst auch langsamer laufen, als Du vielleicht gewohnt bist. Hast Du die rechte Geschwindigkeit für Dich, den Moment, Deine Wahrnehmung, so wirst Du auch nicht stolpern oder gar hinfallen. Vielleicht setzt Du Deine Füße auch etwas behutsamer auf, vielleicht werden sie vorsichtiger mit den möglichen Unebenheiten umgehen. Aber blicke für den Lauf von 40 Minuten, von einer Stunde nur in die Ferne – Du wirst gewandelt sein, wenn Du zuhause ankommst. Dein Geist wird nach oben hin geöffnet sein, erhaben, er hat fliegen dürfen und ist nun bereit sich wieder mit dem naheliegenden zu beschäftigen. Es kann sein, dass es Dich berauscht, so zu laufen. Doch Vorsicht! Im Rausch sind wir in der Lage über uns selbst hinauszugehen. Dies kann zu Erschöpfung, zu übermäßiger Ermüdung führen, Du kannst Dich übernehmen, zusammenbrechen, Dich verletzen. Wenn Du dies alles vermeiden willst, so genieße den Rausch, aber zähme ihn ein wenig auf das Maß, in dem Du Dich auch sonst bewegst.

Und darum laufe!