Der Morgen

Wenn du Gedanken in den Wald trägst, die schwer und überwältigend scheinen, wenn die Reue über Irrtümer und falsche Entscheidungen nicht weichen will, wenn du erinnerst, einmal gezögert zu haben und dadurch etwas verloren hast, vor Jahren, wenn der Verlust so groß war, dass er ein Leben bis hierher begleitet, wenn dieser Verlust zu einer Erzählung taugt, die du gewohnt bist immer und immer wieder zu erzählen, zu einer Erzählung, die immer und immer wieder erzählt, ein kleines bisschen milder wird, um endlich, schließlich dich verstehen läßt: Oh, Ich kann ja immer noch diese Geschichte erzählen, so viele Male schon und immer noch erzähle ich diese Begebenheit, ich atme, ich lebe, habe etwas erlebt und erzähle es dem Menschen, der mir gegenüber steht, mal diesem, mal jenem und ich erzähle diese Geschichte dem Menschen, der neben mir durch diesen Wald hier läuft. Ich erzähle diese Geschichte dem Wald, den Bäumen, dem Wind und dem Rauschen des Baches. Wenn du also verstehst, dass dies die Erzählung des großen Verlustes deines Lebens ist, und zugleich erkennst, dass diese Geschichte schön ist und lehrreich, symbolisch, wie ein Zeichen. Dann ärgere dich nicht zu früh. Und diese Geschichte ist so gestaltet, erschaffen geradezu, als wäre sie ein Kunstwerk, als wäre sie in dieser Form, in der sie sich ereignete, einmal zu erfinden, zu ersinnen durch einen Autor, einen Schöpfer, einen Künstler in seiner genialen Kraft: Darin ist sie schön, in ihrer belehrenden Kraft ist sie schön.Wenn du jetzt, hier angekommen, weil du also voreilig warst und jetzt wieder ein Verlust eintritt, von der Größe des ersten Verlustes, der jetzt wieder wie ein Klang durch dein Leben hindurch tönen wird und du nun ahnst, dieser Klang kann, wenn du es ihm erlaubst dich ebenso lang begleiten, wie der Klang des ersten Verlustes es getan hat bis hierher, dann ärgere dich nicht zu früh. Erinnere dich, du hast solches bereits erlebt und wie ironisch, ein Witz geradezu, dass das entgegengesetzte Verhalten genau denselben oder einen gleich gearteten Verlust bewirkt. Einmal zögertest du und nun warst du voreilig, du hättest nur ein kleines bisschen warten müssen, um zu empfangen, was du als Geburtsrecht empfindest: Die Fülle am Sein, in jeder nur möglichen Form und Ausprägung. Doch alles geschieht genau so, wie es geschehen soll. Die Erfahrung flüstert leis: Den Verlust zu erfahren, es ist von größerem Wert als die Erfüllung des ersehnten Traumes oder die unerwartete Belohnung, das unerwartete Geschenk,welches du alsbald vergisst. Der Verlust, das bist du! Schön und gefügt. In ihm ist tiefe Bestimmung. Du bist der atmende, der tanzende, der erzählende Zerstörer deiner selbst. Die Erzählung, die du von dir zu äußern gewohnt bist. Im Tanz löst sie sich auf. Im Tanz löst sich nun auf, was fest genug war, bereut zu sein. Es bleibt nur noch der Tanz, die Freude und der strahlende Schein des anbrechenden Morgens.

Und darum laufe!

Gedankenstrom

Der Mensch als eine Art Gedankenstrom gedacht. Viel mehr als sein Körper. Viel mehr als der Anblick, den er bietet, als die Ästhetik, in der er läuft. Der Mensch, der ermüdet, nach dem Schlaf sich sehnt, um gedacht zu werden und darin endlich Entspannung zu erlangen. Dem sich bewegenden Strom zu begegnen, auch und gerade in der Bewegung ist dies möglich. Den sich bewegenden Strom zu begleiten, auch und gerade in der Bewegung ist dies möglich. Sich ihm, also sich selbst entgegenzustellen, bedeutet, eine Ahnung von sich selbst zu erhalten. Das also an dem Strömenden bin ich. Unmöglich, dem zuwider zu handeln. Ich kann nur mich treiben lassen, mich hinein geben in mich selbst. In den großen von mir unterschätzten Strom. Große Kraft, ein wenig sie Hindern, doch sie ist zu groß! Seine Richtung, die des Stromes ist klar. Sich seiner Selbst bewusst zu werden, es erfordert mit sich selbst umzugehen. In die Mitte des Stromes zu treiben, am Rand sich zu verlangsamen. Einen Blick auf sich selbst zu gewinnen: Auch das bin ich! Es ist ein Spiel in diesem Gedankenstrom zu treiben.

Und darum laufe!

Eine Gabe

Ein Lauf, ein Wasserfall. Ich gebe Wasser aus meiner Flasche hinzu. Es ist ein Opfer, eine Gabe. Ich gieße Wasser in die davon strömenden Wassermassen. Und es strömt hinfort, hinaus in die Welt. Von hier aus, von diesem Ort, von mir. Es ist Wasser, welches ich auf diesem Lauf noch benötigen würde. Darin liegt das Opfer. Es ist wichtig, dass ich das Wasser vergieße. Es ist bedeutend. Es ist eine Handlung, deren Wirkung ich noch benötigen werde.

Und darum laufe!

Schnee

Schnee am Morgen. Ein weißes Tuch auf den Boden gelegt. Ein Teppich, weich und rein. Der ganze Wald so still und weiß belegt. Kein Schritt, keine Spur, der Weg selbst ist nicht zu erkennen. Verletzlich, rein. Es ist, als wäre mir dieser Teppich zum Geschenk gemacht. Ihn zu betreten, als erster und einziger Mensch, der ihn in dieser Form betreten mag. Wie nur könnte ich dieses Geschenk ablehnen?

Und darum laufe!

Der Ruf

Ich denke und ein Rabe antwortet mir. Ich überdenke und ein Eichelhäher warnt mich eindringlich.Mein Überdenken war kriegerisch und ich erkenne, nur mir selbst zu schaden mit der Eröffnung eines Krieges, den ich vielleicht gewinnen würde. Ich verspreche also den friedlichen Weg zu nehmen. Ich verspreche sanft und gewährend zu sein und ein sirrender, schwingender Ton eines mir unbekannten Vogels antwortet mir. Den Vogel nicht zu kennen, ist gut. Er soll mir in Zukunft die Erinnerung schenken, mich einmal zur Sanftheit bekannt zu haben. Wieder und wieder nehme ich später seinen sirrenden, schwingenden Ruf wahr. Geheimnis, Erinnerung und Bestätigung des einmal getroffenen Entschlusses, zum Frieden mich zu bekennen. Immer und immer wieder benötige ich diesen Ruf, um mich zu erinnern.

Und darum laufe!

Mit offenen Augen

Die Bäume rauschen. Ich beschreite den Rausch. Ein Rausch an Farben und Formen. Gelbe und grüne Blätter ausgelegt. Auch braune. Ich betrete Zerreichenteppiche, Buchenteppiche, Ahornteppiche, aus Blättern gewoben. Ausgelegt und fliegend zugleich im Sonnenlicht des Herbstes. Ausgelegt, meine Sinne zu täuschen und es ist rauschaft hier hindurchzueilen mit dem sooft geübten, sich wie von selbst anbietenden, gesenkten Blick. Und ich erkenne anhand der Blattformen, wo ich mich auf meinem Weg befinde. Ich lese auf meiner Landkarte der Welt im Maßstab 1:1. Der Rausch ist so natürlich und so leicht beschritten, so wenig abgegrenzt, dass es mir kaum möglich scheint, zu differenzieren zwischen den Zuständen davor, danach und darin. Eingebettet ist alles und die Natürlichkeit des Rausches, sie wird ganz deutlich und klar. Wieso nicht den Rausch als die eigentliche Form betrachten? Ist sie doch nur durch ein wenig Bewegung und die Fokussierung bewirkt. Ohne Substanzen, ohne Droge. Eindrücke genügen, Sinneswahrnehmungen, das Spiel von Licht und Schatten, die im Herbstleuchten sich auflösende räumliche Tiefe. Alles scheint nah, geradezu wattiert und ohne Hall, das rascheln meiner Füße in dem Laubgeschiebe, nah, dumpf, taub, ganz ohne Hall. Und der sooft geübte, sich wie von selbst anbietende gesenkte Blick ist nicht nur im Lauf, sondern auch im Moment davor. Auch davor ist schon alles Rausch. Rausch ist im erwartenden Innehalten, im unterkomplex tätigen, in dem monoton rhythmischen, in dem sich an sich selbst erregenden Strom an Worten. Rausch ist in dem Offenbarenden an Ton, Wort, Melodie. Rausch ist in Geste, Mimik, Tanz, Bewegung, in der Abfolge und in der Komposition. Rausch ist in in dem, was ich bin, ohne davon zu wissen. Rausch ist in der Ahnungslosigkeit. Der sich, wie von selbst anbietende gesenkte Blick, sooft geübt, er neigt sich hinein in mein Leben, in noch so kleine Brüche, Pausen, Stockungen. Er neigt sich in die Umwege und in die Wege überhaupt. Und so ist mir dieser gesenkte Blick mittlerweile ein Phänomen der offenen Augen, des bedacht Blickens, des Entzifferns und des Beachtens, des Aufmerkens, des in der Aufmerksamkeit Verharrens. Immer öfter, alles Rausch, und, ja, schließlich Depression.

Und darum laufe!