Geschlossene Augen

Mit geschlossenen Augen wird das Sehen zu dem, was sich findet zwischen dem Sehnerv und dem Gehirn. Entweder wird etwas Projiziert aus dem Gehirn heraus in die Richtung der Netzhaut, oder aber genau in der entgegen gesetzten Richtung, aus der Netzhaut heraus in die Richtung des Gehirns. So stelle ich mir das vor. Und dort, wo beides zueinander kommt, dort hinein die Wahrheit dringt. Doch es gibt dort noch mehr, als nur diese beiden Ausrichtungen. Dort ist ein einzelner Punkt, so klein ich ihn mir nur vorstellen kann, mathematisch klein, aus dem heraus sich Bilder erheben. Und zugleich ist dort das All, das uns umgebende, das unendliche, so unendlich ich es mir nur vorstellen kann, aus dem heraus sich Bilder in mich hinein senken. Und dann ist dort auch noch die Zeit, die ganz wie sie es will, Bilder aus der Vergangenheit abruft, oder aber Bilder von dem, was sich erst ereignen wird, bereit stellt. Und ich bin dem völlig ausgeliefert. Es ist spielerisch dabei. Und ich verliere den Glauben an eine Begrenztheit. Ich verliere den Glauben an eine Getrenntheit. Ich bin immer noch Ich. Doch auch das sei spielerisch genommen.

Und darum laufe!

Molekül

Meine Ahnen sagen: Atme durch die Nase und erwärme die einströmende Luft, bevor sie in deine Lunge eindringt. Ich sage den mir folgenden Ahnen: Atme durch die Nase und befrage dieses eine Molekül, welches an deiner Nasenkante gerade eben noch in den Luftstorm gelangt, der in deine Lunge gleitet, nach dem Ursprung des Universums.

Und darum laufe!

Schnee, Schnee, Schnee

An der Wegkreuzung setze ich mich in den Schnee und verweile. Ich blicke in das fahle Morgenlicht, mein Atem steigt auf und vermengt sich mit den mich umgebenden Flocken. Die Flocken! Ich höre ihr Aufschagen auf die über meinen Ohren liegende Mütze. Wie eine Membran, ein vorgelagertes Trommelfell. Es knistert und trommelt und meldet der Flocken Dichte. Ich lausche.

Und darum laufe!

Eine Gabe

Ein Lauf, ein Wasserfall. Ich gebe Wasser aus meiner Flasche hinzu. Es ist ein Opfer, eine Gabe. Ich gieße Wasser in die davon strömenden Wassermassen. Und es strömt hinfort, hinaus in die Welt. Von hier aus, von diesem Ort, von mir. Es ist Wasser, welches ich auf diesem Lauf noch benötigen würde. Darin liegt das Opfer. Es ist wichtig, dass ich das Wasser vergieße. Es ist bedeutend. Es ist eine Handlung, deren Wirkung ich noch benötigen werde.

Und darum laufe!

Schnee

Schnee am Morgen. Ein weißes Tuch auf den Boden gelegt. Ein Teppich, weich und rein. Der ganze Wald so still und weiß belegt. Kein Schritt, keine Spur, der Weg selbst ist nicht zu erkennen. Verletzlich, rein. Es ist, als wäre mir dieser Teppich zum Geschenk gemacht. Ihn zu betreten, als erster und einziger Mensch, der ihn in dieser Form betreten mag. Wie nur könnte ich dieses Geschenk ablehnen?

Und darum laufe!

Der Ruf

Ich denke und ein Rabe antwortet mir. Ich überdenke und ein Eichelhäher warnt mich eindringlich.Mein Überdenken war kriegerisch und ich erkenne, nur mir selbst zu schaden mit der Eröffnung eines Krieges, den ich vielleicht gewinnen würde. Ich verspreche also den friedlichen Weg zu nehmen. Ich verspreche sanft und gewährend zu sein und ein sirrender, schwingender Ton eines mir unbekannten Vogels antwortet mir. Den Vogel nicht zu kennen, ist gut. Er soll mir in Zukunft die Erinnerung schenken, mich einmal zur Sanftheit bekannt zu haben. Wieder und wieder nehme ich später seinen sirrenden, schwingenden Ruf wahr. Geheimnis, Erinnerung und Bestätigung des einmal getroffenen Entschlusses, zum Frieden mich zu bekennen. Immer und immer wieder benötige ich diesen Ruf, um mich zu erinnern.

Und darum laufe!

Mit offenen Augen

Die Bäume rauschen. Ich beschreite den Rausch. Ein Rausch an Farben und Formen. Gelbe und grüne Blätter ausgelegt. Auch braune. Ich betrete Zerreichenteppiche, Buchenteppiche, Ahornteppiche, aus Blättern gewoben. Ausgelegt und fliegend zugleich im Sonnenlicht des Herbstes. Ausgelegt, meine Sinne zu täuschen und es ist rauschaft hier hindurchzueilen mit dem sooft geübten, sich wie von selbst anbietenden, gesenkten Blick. Und ich erkenne anhand der Blattformen, wo ich mich auf meinem Weg befinde. Ich lese auf meiner Landkarte der Welt im Maßstab 1:1. Der Rausch ist so natürlich und so leicht beschritten, so wenig abgegrenzt, dass es mir kaum möglich scheint, zu differenzieren zwischen den Zuständen davor, danach und darin. Eingebettet ist alles und die Natürlichkeit des Rausches, sie wird ganz deutlich und klar. Wieso nicht den Rausch als die eigentliche Form betrachten? Ist sie doch nur durch ein wenig Bewegung und die Fokussierung bewirkt. Ohne Substanzen, ohne Droge. Eindrücke genügen, Sinneswahrnehmungen, das Spiel von Licht und Schatten, die im Herbstleuchten sich auflösende räumliche Tiefe. Alles scheint nah, geradezu wattiert und ohne Hall, das rascheln meiner Füße in dem Laubgeschiebe, nah, dumpf, taub, ganz ohne Hall. Und der sooft geübte, sich wie von selbst anbietende gesenkte Blick ist nicht nur im Lauf, sondern auch im Moment davor. Auch davor ist schon alles Rausch. Rausch ist im erwartenden Innehalten, im unterkomplex tätigen, in dem monoton rhythmischen, in dem sich an sich selbst erregenden Strom an Worten. Rausch ist in dem Offenbarenden an Ton, Wort, Melodie. Rausch ist in Geste, Mimik, Tanz, Bewegung, in der Abfolge und in der Komposition. Rausch ist in in dem, was ich bin, ohne davon zu wissen. Rausch ist in der Ahnungslosigkeit. Der sich, wie von selbst anbietende gesenkte Blick, sooft geübt, er neigt sich hinein in mein Leben, in noch so kleine Brüche, Pausen, Stockungen. Er neigt sich in die Umwege und in die Wege überhaupt. Und so ist mir dieser gesenkte Blick mittlerweile ein Phänomen der offenen Augen, des bedacht Blickens, des Entzifferns und des Beachtens, des Aufmerkens, des in der Aufmerksamkeit Verharrens. Immer öfter, alles Rausch, und, ja, schließlich Depression.

Und darum laufe!