Tor

Das ersehnte Glück, welches ich mir vergegenwärtige in Vorstellungen, Visionen und geatmeten Momenten. Ich stehe mittendrin und brauche mich nicht zu sorgen. Es ist so real, wie die einmal erahnte Sorge. Sie beide sind mein täglich Tun, mein Agieren und Reagieren, mein Wägen und Wagen. Ich stehe mittendrin in all dem und der Stille Tor zu öffnen, all dies mir offenbart. Der Stille Tor zu öffnen, mich befreit von der Illusion an Sorge und an Freude. Und ich muss mich nicht hinauf schwingen oder hinab. Dies alles entpuppt sich als meines Tages Lauf, mein täglich Tun, mein Agieren und Reagieren, mein Wägen und Wagen. Ich stehe mittendrin in all dem und der Stille Tor zu öffnen, all dies mir offenbart.

Und darum laufe!

Begriff

Auf dem Höhenweg höre ich das Rauschen des Wasserfalles zu mir herauftönen. Eine lichte Stelle in der Schlucht gibt den Blick frei auf die gegenüberliegende Seite. Und ich blicke. Ich blicke auf die Wipfel der Bäume. Ich beobachte ihre Bewegungen, das Spiel von Licht und Schatten. Ich beobachte das Flirren des Lichtes in dem Geäst, die Ganzheit dieses flirrenden Teppichs an Hell- und Dunkeltönen des grünen Spekturms. Ein in die Tiefe des Raumes reichender Teppich, der so fern ist, dass ich ihn als Fläche wahrnehme. Und ich blicke, bis in mir ein jeglicher Begriff von dem, was ich sehe, verloren geht. Ich blicke und die Auflösung von der Form und der Bezeichnung dieser Form ist vollkommen. Ich besitze keinen Begriff mehr. Es ist dort in mir kein Begriff überhaupt und ich verstehe: Ich bin angekommen.

Und darum laufe!

Feindlichkeit

Fixationen und Saccaden. So wie im Leseprozess mein Auge springt von Punkt zu Punkt, von Buchstabe zu Buchstabe und darin sich mögliche Sinnzusammenhänge auffächern, so springt das Auge zurück und eine Eindeutigkeit entsteht. Die eine Aussage. Sie ist auf dem Wege des Ausschliessens errungen. Das Erlaufen von Bedeutung durch meine Augen auf den Zeilen. Fixationen als Punkte größter Schärfe, um die herum unscharfe Bereiche mich erahnen lassen: Wortlänge und Wortbild, dann die Zeile an sich und den Beginn der nächsten Zeile, zu der ich springen werde. Wir wissen nicht, was vorgeht in diesem Sprung von vielleicht acht Zentimetern, gemessen an dem Schärfepunkt auf dem Blatt Papier in dem ideal gesetzten Buch. Dieser Zeilensprung, ein Wunder, dass er keine Unterbrechung in dem Fluss der Gedanken darstellt. Und nun stelle ich mir vor, die Natur zu lesen, das Belebte, mich Umgebende, den Urwald, das fleischlich feucht Schmatzende, das einander Aussaugende, einander Verzehrende, das sich Einverleibende, das Lauernde, sich anpassend in Form und Geschick. Lauernd, ein Jaguar, gemustertes Fell und diese tiefen hineinziehenden Augen. Furcht? Ganz sicher! Aber auch Vertrauen in das liebliche Blatt, in den einen Tropfen, der das Licht der Sonne hinauf in dein Auge bricht. Fixationen und Saccaden, Ruhepunkte und Sprünge der Blickbewegung. Sie waren, bevor Menschen über Mimik und Gesten zu Zeichen und Sprache fanden und schließlich zur Schrift. Sie formten die Schrift und nicht etwa bildete die Schrift aus, was in uns so unbewusst wie geheimnisvoll das Wesen des Lesevorgangs darstellt. Schärfe und Sprünge, Erkennen und Rücksprung, Entschlüsseln und dann wieder Entschlüsseln. Anzeichen und Deutung und Vergewisserung. Das Springen des Blickes auf die Erscheinungen der Umwelt und der Rücksprung, um sich zu vergewissern: Ist dort ein Tier, welches ich fürchte? Ist dort ein Tier, welches ich suche? Das, es ist in uns angelegt und darin sind wir, so wie ein Mensch vor Millionen von Jahren. Wir erschaffen in uns die Illusion eines scharfen Bildes der uns umgebenden Welt über die fixierten, scharf wahrgenommenen Punkte dort im Geäst, auf dem Boden, am Himmel. Und nun schließe ich die Augen und beobachte, wie meine Augäpfel unter den geschlossenen Augenlidern umher tanzen. Ich beobachte die Schlieren, die hin und her geschubst werden, an den Punkten leichter Helligkeit. Und ich versuche meine Augäpfel zur Ruhe kommen zu lassen. Ich Versuche sie zu entspannen. Ich versuche die jagende und befürchtende Anspannung in mir los zu lassen, oder sie zu besänftigen. Das angestrengt Lauernde ist ja ohne Wirkung, da die Augen geschlossen sind. Und so kann ich es doch sein lassen, die ganze Anspannung doch von mir lassen. Die Augen gerichtet auf die Dunkelheit vor mir, auf nichts fixiert und so blicken die Augen parallel, geradeaus auf das Nichts vor mir. Ein imaginäres Nichts, vielleicht fünf oder sieben Meter vor mir. Und da kein Angriff erfolgt, die Feindlichkeit der Welt nicht real wird, da ich gleichzeitig geradezu unsichtbar werde für die Gestalten des Urwaldes, ungenießbar werde für sie, als wäre mein Fleisch vergiftet für sie und damit unattraktiv geworden. Da also Zeit vergeht, ohne ein Ereignis, beginne ich zu vertrauen. Ich vertraue, wie ein Mensch vertraute vor Millionen von Jahren. Ich beginne mich frei zu fühlen. Eine Freiheit von ungeahnter Kraft, so liebevoll, geborgen. Es rührt mich, sein zu dürfen, dankbar bin ich. Einfach bin ich, unteilbar. Ich selbst bin ich. Die Feindlichkeit der Welt, sie kommt zur Ruhe.

Und darum laufe!

Der Morgen

Wenn du Gedanken in den Wald trägst, die schwer und überwältigend scheinen, wenn die Reue über Irrtümer und falsche Entscheidungen nicht weichen will, wenn du erinnerst, einmal gezögert zu haben und dadurch etwas verloren hast, vor Jahren, wenn der Verlust so groß war, dass er ein Leben bis hierher begleitet, wenn dieser Verlust zu einer Erzählung taugt, die du gewohnt bist immer und immer wieder zu erzählen, zu einer Erzählung, die immer und immer wieder erzählt, ein kleines bisschen milder wird, um endlich, schließlich dich verstehen läßt: Oh, Ich kann ja immer noch diese Geschichte erzählen, so viele Male schon und immer noch erzähle ich diese Begebenheit, ich atme, ich lebe, habe etwas erlebt und erzähle es dem Menschen, der mir gegenüber steht, mal diesem, mal jenem und ich erzähle diese Geschichte dem Menschen, der neben mir durch diesen Wald hier läuft. Ich erzähle diese Geschichte dem Wald, den Bäumen, dem Wind und dem Rauschen des Baches. Wenn du also verstehst, dass dies die Erzählung des großen Verlustes deines Lebens ist, und zugleich erkennst, dass diese Geschichte schön ist und lehrreich, symbolisch, wie ein Zeichen. Dann ärgere dich nicht zu früh. Und diese Geschichte ist so gestaltet, erschaffen geradezu, als wäre sie ein Kunstwerk, als wäre sie in dieser Form, in der sie sich ereignete, einmal zu erfinden, zu ersinnen durch einen Autor, einen Schöpfer, einen Künstler in seiner genialen Kraft: Darin ist sie schön, in ihrer belehrenden Kraft ist sie schön.Wenn du jetzt, hier angekommen, weil du also voreilig warst und jetzt wieder ein Verlust eintritt, von der Größe des ersten Verlustes, der jetzt wieder wie ein Klang durch dein Leben hindurch tönen wird und du nun ahnst, dieser Klang kann, wenn du es ihm erlaubst dich ebenso lang begleiten, wie der Klang des ersten Verlustes es getan hat bis hierher, dann ärgere dich nicht zu früh. Erinnere dich, du hast solches bereits erlebt und wie ironisch, ein Witz geradezu, dass das entgegengesetzte Verhalten genau denselben oder einen gleich gearteten Verlust bewirkt. Einmal zögertest du und nun warst du voreilig, du hättest nur ein kleines bisschen warten müssen, um zu empfangen, was du als Geburtsrecht empfindest: Die Fülle am Sein, in jeder nur möglichen Form und Ausprägung. Doch alles geschieht genau so, wie es geschehen soll. Die Erfahrung flüstert leis: Den Verlust zu erfahren, es ist von größerem Wert als die Erfüllung des ersehnten Traumes oder die unerwartete Belohnung, das unerwartete Geschenk,welches du alsbald vergisst. Der Verlust, das bist du! Schön und gefügt. In ihm ist tiefe Bestimmung. Du bist der atmende, der tanzende, der erzählende Zerstörer deiner selbst. Die Erzählung, die du von dir zu äußern gewohnt bist. Im Tanz löst sie sich auf. Im Tanz löst sich nun auf, was fest genug war, bereut zu sein. Es bleibt nur noch der Tanz, die Freude und der strahlende Schein des anbrechenden Morgens.

Und darum laufe!

Gedankenstrom

Der Mensch als eine Art Gedankenstrom gedacht. Viel mehr als sein Körper. Viel mehr als der Anblick, den er bietet, als die Ästhetik, in der er läuft. Der Mensch, der ermüdet, nach dem Schlaf sich sehnt, um gedacht zu werden und darin endlich Entspannung zu erlangen. Dem sich bewegenden Strom zu begegnen, auch und gerade in der Bewegung ist dies möglich. Den sich bewegenden Strom zu begleiten, auch und gerade in der Bewegung ist dies möglich. Sich ihm, also sich selbst entgegenzustellen, bedeutet, eine Ahnung von sich selbst zu erhalten. Das also an dem Strömenden bin ich. Unmöglich, dem zuwider zu handeln. Ich kann nur mich treiben lassen, mich hinein geben in mich selbst. In den großen von mir unterschätzten Strom. Große Kraft, ein wenig sie Hindern, doch sie ist zu groß! Seine Richtung, die des Stromes ist klar. Sich seiner Selbst bewusst zu werden, es erfordert mit sich selbst umzugehen. In die Mitte des Stromes zu treiben, am Rand sich zu verlangsamen. Einen Blick auf sich selbst zu gewinnen: Auch das bin ich! Es ist ein Spiel in diesem Gedankenstrom zu treiben.

Und darum laufe!

Geschlossene Augen

Mit geschlossenen Augen wird das Sehen zu dem, was sich findet zwischen dem Sehnerv und dem Gehirn. Entweder wird etwas Projiziert aus dem Gehirn heraus in die Richtung der Netzhaut, oder aber genau in der entgegen gesetzten Richtung, aus der Netzhaut heraus in die Richtung des Gehirns. So stelle ich mir das vor. Und dort, wo beides zueinander kommt, dort hinein die Wahrheit dringt. Doch es gibt dort noch mehr, als nur diese beiden Ausrichtungen. Dort ist ein einzelner Punkt, so klein ich ihn mir nur vorstellen kann, mathematisch klein, aus dem heraus sich Bilder erheben. Und zugleich ist dort das All, das uns umgebende, das unendliche, so unendlich ich es mir nur vorstellen kann, aus dem heraus sich Bilder in mich hinein senken. Und dann ist dort auch noch die Zeit, die ganz wie sie es will, Bilder aus der Vergangenheit abruft, oder aber Bilder von dem, was sich erst ereignen wird, bereit stellt. Und ich bin dem völlig ausgeliefert. Es ist spielerisch dabei. Und ich verliere den Glauben an eine Begrenztheit. Ich verliere den Glauben an eine Getrenntheit. Ich bin immer noch Ich. Doch auch das sei spielerisch genommen.

Und darum laufe!

Mit offenen Augen

Die Bäume rauschen. Ich beschreite den Rausch. Ein Rausch an Farben und Formen. Gelbe und grüne Blätter ausgelegt. Auch braune. Ich betrete Zerreichenteppiche, Buchenteppiche, Ahornteppiche, aus Blättern gewoben. Ausgelegt und fliegend zugleich im Sonnenlicht des Herbstes. Ausgelegt, meine Sinne zu täuschen und es ist rauschaft hier hindurchzueilen mit dem sooft geübten, sich wie von selbst anbietenden, gesenkten Blick. Und ich erkenne anhand der Blattformen, wo ich mich auf meinem Weg befinde. Ich lese auf meiner Landkarte der Welt im Maßstab 1:1. Der Rausch ist so natürlich und so leicht beschritten, so wenig abgegrenzt, dass es mir kaum möglich scheint, zu differenzieren zwischen den Zuständen davor, danach und darin. Eingebettet ist alles und die Natürlichkeit des Rausches, sie wird ganz deutlich und klar. Wieso nicht den Rausch als die eigentliche Form betrachten? Ist sie doch nur durch ein wenig Bewegung und die Fokussierung bewirkt. Ohne Substanzen, ohne Droge. Eindrücke genügen, Sinneswahrnehmungen, das Spiel von Licht und Schatten, die im Herbstleuchten sich auflösende räumliche Tiefe. Alles scheint nah, geradezu wattiert und ohne Hall, das rascheln meiner Füße in dem Laubgeschiebe, nah, dumpf, taub, ganz ohne Hall. Und der sooft geübte, sich wie von selbst anbietende gesenkte Blick ist nicht nur im Lauf, sondern auch im Moment davor. Auch davor ist schon alles Rausch. Rausch ist im erwartenden Innehalten, im unterkomplex tätigen, in dem monoton rhythmischen, in dem sich an sich selbst erregenden Strom an Worten. Rausch ist in dem Offenbarenden an Ton, Wort, Melodie. Rausch ist in Geste, Mimik, Tanz, Bewegung, in der Abfolge und in der Komposition. Rausch ist in in dem, was ich bin, ohne davon zu wissen. Rausch ist in der Ahnungslosigkeit. Der sich, wie von selbst anbietende gesenkte Blick, sooft geübt, er neigt sich hinein in mein Leben, in noch so kleine Brüche, Pausen, Stockungen. Er neigt sich in die Umwege und in die Wege überhaupt. Und so ist mir dieser gesenkte Blick mittlerweile ein Phänomen der offenen Augen, des bedacht Blickens, des Entzifferns und des Beachtens, des Aufmerkens, des in der Aufmerksamkeit Verharrens. Immer öfter, alles Rausch, und, ja, schließlich Depression.

Und darum laufe!

Umfließen

Und das Weiche umfließt den Stein, und das Fließende höhlt den Stein, das Wasser umschmeichelt den Stein, und das Charmante erreicht den Stein, und das Herz erweicht den Stein, und das Weiche bricht den Stein, und der Hammer zerschlägt den Stein, und die Mühle zermahlt den Stein, und Sand wird aus dem Stein, und in der Hand zerrinnt der Stein, und die Liebe ersehnt den Stein, und der Druck erzeugt den Stein, und der Sand er wird zu Stein, und die Liebe gebiert den Stein, und die Liebe liebt den Stein, und das Weiche umfließt den Stein.

Und darum laufe!