Linienläufer

Das Laufen im Kreis ist etwas anderes, als das Laufen auf einer Linie. Wo es hier vielleicht als ein Vorteil empfunden sein mag, dass vom ersten Schritt an das Ziel voraus liegt, so mag dort der Weg zu dem Wendepunkt als beschwerlich empfunden sein, weil ein jeder Schritt Entfernung bedeutet und eben nur in übertragenem Sinne Annäherung. Doch dem sich vergrößernden Raum, dem sich Von-dem-Ziel-und-dem-Ausgangspunkt-Entfernen, einen Sinn abzugewinnen, ist die Herausforderung, die dem Linienläufer gestellt ist. So wie er sich körperlich trainiert, steht ihm die mentale Übung bereit, vom ersten Schritt an. Mit der Vorstellung des Sich-Entfernens umzugehen ist die Herausforderung für den Linienläufer. Ein Möglichkeitsraum. Nichts wird ihn schrecken können. Nach innen gesenkt, mag er eine besondere Stärke entwickeln. Vom ersten Schritt an. Sie ist, unbeirrt zu sein. In mir erhebt sich die berauschende Vorstellung, zu einem Linienläufer zu werden, der nicht zurückkehrt an seinen Ausgangspunkt. Ein Linienläufer, der Tag für Tag sich fortbewegt und nie zweimal an dem gleichen Ort sich niederlegt, um auszuruhen. Ein Linienläufer, der nicht mehr zurückkehrt, der sich nicht umdreht, der weiter, immer weiter läuft. Einfach nur geradeaus, um darin den Kreis eines Seins zu schließen.

Und darum laufe!

Die hohe Kunst

Mit dem gesenkten Blick, dem verengten Sichtfeld auf den Bereich vor meinen Füßen, lasse ich die Erde unter mir hinwegströmen. Steine, Staub, Geröll, Gräser, Wurzeln, Pfützen. All dies in dem Strom meines Laufes, in den sich bildhaftes aus meinen Gedankengängen mit einfügt, um den Raum vollständig auszufüllen. Ich blicke nur dorthin. Ein ovaler Raum, vielleicht einen Meter vor meinen Füßen. Ich schirme mich völlig ab. Kein Blick weicht ab. Und ich folge einer inneren Erzählung. Sie kann sich aus all dem, was denkbar ist, speisen. Immer ist sie die Realisation des Wunsches von etwas, erzählt zu sein. Die Erzählung taucht auf, weil sie erzählt und von mir gehört sein will. Oft begegne ich im Zuhören Gefühlen der Reuhe und der Scham. Ich versuche sie sein zu lassen, nachdem ihnen hier mein Raum zur Verfügung gestellt war. Das gelingt meist ganz gut, denn in mir ist der Wunsch, es gut werden zu lassen und Frieden zu schließen. Dieser ovale Raum, einen Meter vor meinen Füßen ist ein Ort der Heilung, der Harmonisierung und ich erfahre immer wieder, in ihm aufzugehen und aus ihm gereinigt hervorzutreten. Dabei genügt es, einer einzigen Erzählung zu folgen. Um die Erzählung in der Tiefe aufzunehmen und vielleicht sogar zu verstehen, ist es sogar notwendig, dass ich mich auf diese eine Erzählung konzentriere. Die Bewegung, der Stoffwechsel, Atmung, Weg und mich Umgebendes, Pflanzen, Tiere, Menschen, Regen, Sonne, das Licht und sein Schatten, dies alles dient dieser einen Sache. Und es ist der Strom des Lebens, der unter mir fließt. Er ist vielschichtig, unfassbar, in steter Veränderung und in steter Bewegung. Ich laufe auf dem rauschenden Wasser dieses Stromes. Meine Füße fliegen über ihn hinweg, sodass sie seine Oberfläche gerade eben nicht berühren. Ich spüre die kühle feuchte Luft an mir aufsteigen. Ich darf nicht stehenbleiben. Ebensowenig darf ich nicht zu schnell laufen. Ich würde außer Atem geraten. Meine Geschwindigkeit soll so sein, dass ich nicht leide und reagieren kann, wenn es erforderlich ist. Ein wenig zu beschleunigen ist mir dann noch möglich. Nichts ist vorherzusehen, so ist es gut, ein wenig bereit zu sein. Ich laufe auf dem Wasser und bedenke die Metapher, so wie ich sie erzählt bekommen habe, neu. Über das Wasser laufen, auf den Wasser laufen … und nun leuchtet mir ein, dass damit gemeint sein kann, die rechte Geschwindigkeit zu wahren bei dem Lauf auf dem Strom des Lebens. Dem Lauf auf dem Strom des eigenen Lebens. So individuell und schön, wie ein jeder Mensch ist. Ohne dabei in dem Strom des Lebens zu ertrinken. In des Schwebe sich zu halten, in einer Harmonie mit dem Sein. Darin zu dem Strom selbst zu werden, der großen unermesslichen Kraft. Ein Prophet, der auf dem Wasser lauft. Ja, ein Wunder, welches einer Erzählung wert wäre. Doch wieviel mehr kann es für uns bedeuten, sei dies eine Metapher für die hohe Kunst des Seins. In dem Sein wirklich zu werden, in dem höchsten mir möglichen Potential.

Und darum laufe!

Schleifen

Ich laufe in Schleifen. Ein Weg, ein Gedanke, das Gefühl von Schuld und Scham, etwas, das mich nicht loslässt. Es kreist in mir, sodass es mir zu einem Ärgernis wird, welches ich nicht einfach abstreifen kann. Es ist ein Ärgernis, so sehr, dass ich kurz davor bin, den Lauf abzubrechen. Ich bin kurz davor, es sein zu lassen. Eine List kommt mir zuhilfe: Ich laufe ein Stück zurück auf meinem Weg, etwa so weit bis zu dem Ort, an dem ich begann mich zu ärgern. Oder sogar noch weiter zurück bis zu dem Ort, an dem ich begann über das nun erblühte Ärgernis nachzudenken. Dort angelangt, wechsele ich erneut die Richtung und nehme die zweite Chance, von diesem Knotenpunkt aus loszulaufen. Der Knotenpunkt, ist der Punkt, der mich am meisten interessiert. Hier wo der Faden, die Schnüre verknotet ist, wo sie fixiert ist, setze ich mit meiner Frage an. Ich verstehe, was es bedeuten würde, den Knoten zu lösen. Eine Schnur, die zuvor gebunden war, würde auf eine sehr viel größere Länge auseinandergezogen. Einem Quantensprung gleich, wäre von einem auf den anderen Moment ein Anfangspunkt von dem Zielpunkt abgerückt. Der Raum, der dazwischenläge wäre gewaltig erweitert. Es ist also kein mühsames sich annähern an Größe, Weite, Tiefe oder Bedeutung. Es ist da, in diesem Moment. Die Erkenntnis bricht ein in die Realität, wie ein Läufer auf dem Eis. Mich interessiert also diese Verknotung, die mich wiederholen lässt. Die mich daran hindert loszulassen und weiterzuziehen. Mich interessiert der Knoten mehr als alles Andere.

Und darum laufe!