Licht

Die Dämmerung setzt ein. Ein Lauf am frühen Morgen. Aus der Nacht heraus laufe ich in den aufgehenden Tag hinein. Halb nur bin ich wach. Schlaftrunken laufe ich wie von allein. Ich erinnere einen Traum, den ich in der letzten Nacht geträumt habe. Bilder und Symbole erscheinen vor meinem inneren Auge. Ich denke über die Bilder nach und gelange zu einer Deutung, die mir schlüssig erscheint. eine Deutung, die Bilder, Gefühle und Vorgänge zu einer Gestalt zusammenführt. Immer soll die Gestalt geschlossen sein, möglichst eindeutig und ohne Widerspruch. Meine Deutung verbindet den Traum mit Ereignissen und Begebenheiten aus meinem Leben. Beziehungen, Gefühle, Begebenheiten. Dabei ist es immer so, dass mich eine innere Berührtheit ergreift. Nur, wenn ich berührt bin, gehe ich einer möglichen Deutung nach. Nur, wenn ich berührt bin, messe ich der Deutung eine Wahrheit bei. Viele ganz andersartige Deutungen sind vorstellbar. Doch ich weiß ganz genau, was für mich wahr ist und was nicht. Mal ist die Deutung bestätigend, ein anderes Mal ist sie eine Art Spiegelbild, welches mir bisher Ungesehenes vor Augen führt. Ganz sicher sinken in dem Meer an Wahrheit die mich nicht berührenden Bilder in der Schwere ihrer Bedeutungslosigkeit zum Meeresgrund hinab. Ich lasse sie los, ohne Reue, ohne Bedenken. Was von Bedeutung ist, es ist licht, hell und aufsteigend.

Und darum laufe!

Ein Sturz

Ich laufe mit erhobenen Armen, um meinen Rücken, Muskel und Wirbel zu entspannen. Ich versuche die Arme durchzustrecken und blicke im Laufen nach oben, sodass ich Blätter und Äste über mir vorbeifliegen sehe. Eine Wurzel wird wohl mein vorschwingendes Bein gefangen haben und ich stürze in dieser Haltung ungebremst auf beide Knie. Der Stoß schlägt hinauf in die Wirbel zwischen meinen Schutlerblättern und so liege ich da, gekrümmt auf dem Boden und ringe um Luft. Ein Kindheitsschmerz. Ich erinnere mich und lache in mich hinein. Ich lache darüber, ein Narr zu sein, der sich selbst verletzt. Der Schmerz ist mir vertraut und darin nicht beunruhigend. Würde ein Passant zur Hilfe eilen, ich würde sagen: Schon gut, es ist halb so wild, in ein paar Minuten ist alles wieder in Ordnung. Bitte lassen Sie mich einfach liegen. Bitte gehen Sie weiter. Bald werde ich wieder Luft bekommen. Und so war es auch. Nun, ein paar Tage später ist meine Atmung noch immer eingeschränkt, ein Drücken in meinem Brustkorb, nicht unangenehm. Ich atme also vorsichtig in andere Bereiche meiner Lunge, hinab in meinen Bauch. Ich blähe den Bauch, wie eine Blase und das gelingt nur, weil ich die Muskulatur weich lassen muß, wo sie zuvor angespannt war. Wie lange schon? In dieser Peinlichkeit auch noch mit einer Erkenntnis beschenkt zu sein, es erheitert mich zudem.

Und darum laufe!

Die hohe Kunst

Mit dem gesenkten Blick, dem verengten Sichtfeld auf den Bereich vor meinen Füßen, lasse ich die Erde unter mir hinwegströmen. Steine, Staub, Geröll, Gräser, Wurzeln, Pfützen. All dies in dem Strom meines Laufes, in den sich bildhaftes aus meinen Gedankengängen mit einfügt, um den Raum vollständig auszufüllen. Ich blicke nur dorthin. Ein ovaler Raum, vielleicht einen Meter vor meinen Füßen. Ich schirme mich völlig ab. Kein Blick weicht ab. Und ich folge einer inneren Erzählung. Sie kann sich aus all dem, was denkbar ist, speisen. Immer ist sie die Realisation des Wunsches von etwas, erzählt zu sein. Die Erzählung taucht auf, weil sie erzählt und von mir gehört sein will. Oft begegne ich im Zuhören Gefühlen der Reuhe und der Scham. Ich versuche sie sein zu lassen, nachdem ihnen hier mein Raum zur Verfügung gestellt war. Das gelingt meist ganz gut, denn in mir ist der Wunsch, es gut werden zu lassen und Frieden zu schließen. Dieser ovale Raum, einen Meter vor meinen Füßen ist ein Ort der Heilung, der Harmonisierung und ich erfahre immer wieder, in ihm aufzugehen und aus ihm gereinigt hervorzutreten. Dabei genügt es, einer einzigen Erzählung zu folgen. Um die Erzählung in der Tiefe aufzunehmen und vielleicht sogar zu verstehen, ist es sogar notwendig, dass ich mich auf diese eine Erzählung konzentriere. Die Bewegung, der Stoffwechsel, Atmung, Weg und mich Umgebendes, Pflanzen, Tiere, Menschen, Regen, Sonne, das Licht und sein Schatten, dies alles dient dieser einen Sache. Und es ist der Strom des Lebens, der unter mir fließt. Er ist vielschichtig, unfassbar, in steter Veränderung und in steter Bewegung. Ich laufe auf dem rauschenden Wasser dieses Stromes. Meine Füße fliegen über ihn hinweg, sodass sie seine Oberfläche gerade eben nicht berühren. Ich spüre die kühle feuchte Luft an mir aufsteigen. Ich darf nicht stehenbleiben. Ebensowenig darf ich nicht zu schnell laufen. Ich würde außer Atem geraten. Meine Geschwindigkeit soll so sein, dass ich nicht leide und reagieren kann, wenn es erforderlich ist. Ein wenig zu beschleunigen ist mir dann noch möglich. Nichts ist vorherzusehen, so ist es gut, ein wenig bereit zu sein. Ich laufe auf dem Wasser und bedenke die Metapher, so wie ich sie erzählt bekommen habe, neu. Über das Wasser laufen, auf den Wasser laufen … und nun leuchtet mir ein, dass damit gemeint sein kann, die rechte Geschwindigkeit zu wahren bei dem Lauf auf dem Strom des Lebens. Dem Lauf auf dem Strom des eigenen Lebens. So individuell und schön, wie ein jeder Mensch ist. Ohne dabei in dem Strom des Lebens zu ertrinken. In des Schwebe sich zu halten, in einer Harmonie mit dem Sein. Darin zu dem Strom selbst zu werden, der großen unermesslichen Kraft. Ein Prophet, der auf dem Wasser lauft. Ja, ein Wunder, welches einer Erzählung wert wäre. Doch wieviel mehr kann es für uns bedeuten, sei dies eine Metapher für die hohe Kunst des Seins. In dem Sein wirklich zu werden, in dem höchsten mir möglichen Potential.

Und darum laufe!

Silbriger Glanz

Eine Barriere, unsichtbar. Ich komme zu ihr nach einer Weile des Laufens. Ich verlangsame meine Schritte und winde mich behutsam durch sie hindurch, als wäre sie ein schwerer Vorhang aus einem blickdichten Material zum Schutze einer Kammer, eines Kinosaals etwa. Kein Licht soll hindurchdringen, kein Schall, keine Zugluft und auch keine Kälte. Ich gleite hindurch, erst mit dem linken, dann mit dem rechten Bein. Und ich verschließe den Vorhang hinter mir ebenso behutsam, wie ich ihn zuvor öffnete und durchschritt. Dass diese Handlung von Bedeutung ist, bemerke ich in dem Moment, in dem ich völlig hindurchgeschritten bin. Und ich bin nun in einer anderen Welt. Eine Welt, die hier beginnt und von der ich weiß, dass ich sie nur an genau dieser Stelle wieder verlassen kann. Ich werde durch diesen Vorhang wieder zurückkehren, ganz sicher. Diese Welt hält Begegnungen für mich bereit. Ein paar Meter nur und ich werde getroffen von einem silbrigen Schimmern auf dem Weg vor mir. Die Reflexion des Sonnenlichts in einem von silbrigem Glanz durchzogenen Stein zieht mich in ihren Bann. Glimmer und Glanz, ich neige mich hinab und ergreife den Stein, um tiefer in mich einzutauchen. Ein Bild aus Kindheitstagen, eine Begebenheit, ein Ereignis. Der Moment, in dem mein Leben eine Wendung erfuhr, die mich als erwachsenen Mann hierher führte. Deren Bedeutung ich jetzt erkennen kann. Genau jetzt ist der Moment erreicht, erwirkt, in dem mir ein Erkennen möglich ist. Und ich sehe in der Tiefe, was sich ereignete, sehe die Gefühle all derer, die darin verwickelt waren. Sehe, fühle, höre und schmecke. Perspektiven in Gleichzeitigkeit, als würde ich fliegen wie ein Vogel, als würde ich blicken aus meinen Augen und denen anderer Menschen. Was nehme ich mit hiervon? Es ist der silbrige Glanz in den Augen eines Kindes, zu dem ich vorgedrungen bin. Durch den Stein hindurch blickte es mich an und ich bin ihm gefolgt.

Und darum laufe!

Als junger Mann

Im Laufen denke ich:

Als junger Mann hatte ich das Feuer nicht, das mich nun heilt, von dem ich nun weiß. Es steht mir immer zur Verfügung, um meine Augen an ihm zu heilen. Ich kann darin vertrauen, ein Feuer machen zu können, ganz gleich, was sein wird. Ich kann mich daran wärmen und andere einladen. Ich muss es nur entzünden. Ein wenig Holz, ein Funke – das genügt.

Als junger Mann hatte ich die Stimme nicht, die mich nun heilt, von der ich nun weiß. Sie steht mir immer zur Verfügung, um meine Seele zu heilen. Ich kann darin vertrauen, singen zu können, ganz gleich, was sein wird. Ich kann mich an dem Gesang erfreuen und andere einladen. Ich muss die Stimme nur erheben. Ein wenig Atem, ein Lied in meinem Herzen – das genügt.

Als junger Mann hatte ich die Hände nicht, die mich nun heilen, von denen ich nun weiß. Sie stehen mir immer zur Verfügung, um meine Furcht zu heilen. Ich kann darin vertrauen, mich umarmen zu können, ganz gleich, was sein wird. Ich kann meinen Kopf in ihnen bergen. Ich muss sie nur wahrnehmen. Ein wenig Fürsorge, dieser Moment – das genügt.

Und darum laufe!

Spinnweben

Das einfallende Licht, auf meinem Weg im Wald, lässt mich eine linienförmige Reflexion  vor mir wahrnehmen. Es ist ein Faden. Es ist der erste Faden eines noch zu webenden Spinnennetzes, der quer über den Weg auf der Höhe meiner Augen gespannt ist. Ich sehe die Spinne, winzig klein, vom Wind bewegt. Sie hängt in des Fadens Mitte. Sie hat den großen Schlag geschafft. Über den Weg hinweg und ich erstaune über die Größe der Distanz, die diese kleine Spinne mit ihrem Faden überbrückte, um nun daran ihr Netz fortzuspinnen. Vielhundert Mal größer, als sie selbst. Es erfüllt mich mit Ehrfurcht, ihre Meisterschaft zu bemerken. Ich ducke mich unter ihrem feinen Gespinst hinweg, laufe weiter und blicke mit einem Mal in mich hinein. Ich fühle mich tief verbunden mit dieser kleinen Spinne. Es ist so, als wäre ich durch das Ducken und das Unterschreiten dieses Fadens in ein mir bisher verborgenes Reich getreten. Es ist ihr Reich und sie zeigt mir ihre Kraft. Sie zeigt mir die Kraft aller webenden Spinnen auf diesem Planeten. Und in diesem dunklen Raum schimmern hier und dort silbrig die feinen Netze vieler Spinnen. Es sind Stellen im Inneren meines Körpers, denn es ist der Blick nach innen, in mich hinein. Die Spinne führt mich und begleitet mich. Und so reise ich zu meinen schmerzenden Schultern, zu der Entzündung an meinem Augenlid, zu dem bedrängten Gefühl in meinem Magen, der gerissenen Hornhaut an der Ferse meines Fußes. Im Blicke schon lösen sich die feinen Gespinste in reine Reflexion und verschwinden sanft und ohne Laut. Eine Weile noch bin ich verbunden und in großer Dankbarkeit. Ich kehre zurück und unterschreite den silbrigen Faden ein zweites Mal – mit diesem Wort.

Und darum laufe!

Wissenschaft

Wäre ich in dem Bewusstsein des Wissenschaftlers und wäre mir daran gelegen, nachzuweisen, dass ein Aufenthalt in einem Wald heilsam sei für einen Menschen oder sogar vielleicht für jeden Menschen – ein solcher Nachweis würde mir gelingen. Darin bin ich mir sicher. Eine Anzahl von Minuten, im Wald verbracht, in der Umgebung von dem, was wir Wald nennen, gehend, sitzend oder laufend, würde, so die Aussage, das Auftreten von zu bestimmenden Krankheiten in dieser oder jener Jahreszeit deutlich verringern. Dieser Nachweis würde mir gelingen. Doch nicht, weil hieran etwas wahr wäre, absolut, richtig oder überhaupt nachweisbar. Es würde mir gelingen, weil ich von der Aussage und dem zu erreichenden Ergebnis überzeugt wäre. Doch es geht um etwas völlig Anderes. Es geht um den Moment. Es geht um die Freiheit, die keines Beweises bedarf. Es geht um das Wissen und die Verkörperung des Wissens. Um das schweigende Vertrauen und das Lächeln, welches ich zurücktrage in die Gesellschaft der Menschen.

Und darum laufe!

Die Wunde

Ist es so, dass Du Deine Zeit damit verbrachtest, den Anschein zu erwecken, es würde Dir gut gehen, so lass es sein. Dort wo Dein Schmerz offenbart ist, ist der Schmerz gelindert. Nur die Offenbarung, das Zeigen der Wunde ist in der Lage Deinen Schmerz zu lindern. Zeige Dich Gerade denen, vor denen Du Dich in Scham verbirgst. Die, welche Du fürchtest, die Dich verurteilen, ihnen zeige Deine Wunde.

Und darum laufe!